Mittwoch, 27. Februar 2013

Vera in Behandlung II

„Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle Beteiligten so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr darum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.“ (Hannah Arendt) [1]

Auch ich, die ich Teil dieses Massendiskurses bin, habe nicht die Kraft zu trennen und zu verbinden. Ich selbst bin in Behandlung: Vera in Behandlung. Ich bin Teil des Fischschwarms: Vera im Fischschwarm. Mittendrin. Auf die Frage, wie ich mich also selbst in den vielzähligen Gemeinschaften sehe, weiß ich nicht wirklich eine Antwort. Denn in dem Versuch bewusst durch Behandlungsräume zu schreiten, in dem Bemühen mich willentlich der Kollektivbildung zu entziehen, in dem Bestreben jeglicher Ansteckungsgefahr zu trotzen, werde ich automatisch zu einem Teil derjenigen, die all das auch versuchen. Vielleicht bin ich jetzt Mitglied der „Wir“-Kritiker. Zumindest aber gehöre ich zur Gemeinschaft der Blogger, die für Diskurse wie diesen Aufmerksamkeit wecken und Bewusstsein schaffen wollen. Hinzu kommt, dass ich erst im Nachhinein feststelle, ob und – in Ansätzen – wie eine Zuschreibung von außen auf mich wirkt respektive gewirkt hat.

Grenzenlos-Vera-in-Behandlung-

Ich kann mich nicht abtrennen, um objektive Schlussfolgerungen zu liefern und ich kann mich auch nicht mit Gliedern anderer Ketten verbinden, um tatsächliche Sinnzusammenhänge zu untersuchen. Meine Gedanken, meine Themen, mein Schreiben sind zumindest in Teilen durchdrungen von Wert- und Vorurteilen.

Ich habe Angst, dass wir alle irgendwann „massig“ sind – breiig, eintönig und knetbar. Dass die Vermassung der Welt entwurzelt und alle gleich und verlassen macht. Dann ist die Welt nur noch Teig-braun.
Zuversicht hingegen empfinde ich, wenn ich an meine unaufhörliche Fragerei in den letzten Wochen denke. Im „Fragen stellen“ sehe ich zumindest einen Lösungsansatz. Denn indem wir uns unseres Verstandes bedienen, indem wir uns intuitiv von unserer Neugier packen lassen, zeigen wir meiner Meinung nach Mut zum freien Denken. Unser Denken wird dabei zu einem kritisch-reflexiven Akt. Es geht, wie Hannah Arendt einst ihr Buch betitelte, um „Denken ohne Geländer“. Solange wir Menschen aber als funktionierende Glieder oder Instrumente eines Überorganismus – wie den der Masse – unhinterfragt und bedenkenlos handeln, kann sich die Vernunft selbst nicht durchsichtig werden.

An dieser Stelle also noch einmal mein Apell: Mut zum freien Denken!

Beim Denken ein Geländer hier und eine Schranke dort zu passieren und neue Denkwege einzuschlagen – auch wenn diese durch Denktraditionen und Gestrüpp erschwert scheinen – ist meines Erachtens wahnsinnig aufregend. Und mit ein wenig Übung und Überzeugung gelingt es uns vielleicht tatsächlich die einen oder anderen Wert- und Vorurteile zu vergessen, die uns am Denken hindern.

Und letztmöglich sind wir bunte, individuelle Fische in einem noch farbenreicheren Fischschwarm.

Bunte-Masse







[1] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 8. Auflage, München 1967, S.66.

Nur Mut!

Im Laufe der letzen Wochen, während ich meinen Blog schrieb, habe ich mir haufenweise Fragen gestellt und versucht, einige davon aufzuschlüsseln – etwa: Was macht mich zum radikal Behandelten bzw. spricht mir meine Handlungsfähigkeit ab? Wann und wo übermannt mich die soziale Ansteckung? Welche Konstrukte bringen Massen hervor? Wo und in welchen Dimensionen wirken Massenphänomene? Wie wird Masse inszeniert und produziert? Wann entsteht kollektive Identität? Wie sehe ich mich selbst in den vielzähligen Gemeinschaften?

Und nun – nach den vielen Fragen – habe ich im Sinn, einen Appell zu formulieren. Einen Appell, zudem ich Immanuel Kant heranziehen möchte. Denn während meiner Gedankenspaziergänge bin ich immer wieder über denselben Begriffsstein gestolpert: den der Unmündigkeit.

In der Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ hat Kant bereits im Jahr 1784 folgende Erkenntnisse niedergeschrieben:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. (…)
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ [1]

„Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Es ist bequem, Teil einer Masse zu sein und in der Gemeinschaft Halt zu erfahren. Bequemer Halt, um den „ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ brauche. Ungefährlicher ist es auch. Privilegien, wie etwa den Schutz der Masse zu genießen, sich hie und da verstecken zu können oder auf Unterstützung zu hoffen, machen das Leben unbeschwerlicher. Aber ist es wirklich erstrebenswert zeitlebens unmündig zu bleiben?

Waren wir einst unmündig, weil es uns an Reife und Erfahrung fehlte, müssen wir uns doch nicht zwangsläufig in eine immerwährende, abhängige Unmündigkeit begeben! Wäre es nicht spannend, den Spieß einmal umzudrehen und uns nicht als Teil der Masse zu sehen? Sondern mein Mobiltelefon, mein Glaube, meine Erfahrung beim Weltjugendtag, mein Fußballclub, meine medialen Interessen als Teile VON MIR wahrzunehmen? – Unendlich viele Teile, über die ich selbst gebiete? Würde ich mit diesem Schritt nicht mindestens einmal mehr über den Begriffsstein „Unmündigkeit“ steigen können, ohne zu stolpern?

Kant sagt, die Unmündigkeit eines jeden von uns sei selbstverschuldet. Und Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. „Zu dieser Aufklärung (…) wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ [2]

Lässt uns die Masse genügend Raum, um öffentlich frei zu denken – und das selbst verschuldet? Verfügen wir in unserem massenbestimmten Dasein über die Freiheit unsere persönliche Aufklärung betreiben zu können und uns unseres Verstandes – mutig und besonnen – bedienen zu lernen?

Wenn ja, wann findet eine solche, neue, großflächige und wahre Aufklärung statt? Wird sie stattfinden?

Nun zu meinem Appell, den ich gewissermaßen versprochen habe: Lasst uns in Richtung einer neuen Aufklärung aufbrechen. Lasst uns entschlossen Barrieren und Dogmen sprengen und uns selbst überwinden! Lasst uns die „Freiheit der Gleichartigkeit“, in welcher sich der Einzelne als Individuum zu definieren hat, nicht als die wahre Freiheit annehmen. Wir sollten uns vor den großen Fragen, Fragen die vor allen Dingen uns selbst wichtig sind, nicht in den breiigen Stoff „massa“ flüchten, sondern gewillt sein, in einen offenen Raum zu treten, den wir nach bestem Wissen und Gewissen selbst gestalten. Und möglicherweise resultiert aus den vielen kleinen, persönlichen Aufklärungen eine gesellschaftliche Aufklärung. Denn ich persönlich bin mir sicher, dass freiheitsdenkende Individuen in einer Masse wahrlich Großes bewirken könnten.

Von unserem Mut zum freien Denken hängt unsere Zukunft ab.







[1] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift,
Dezember-Heft 1784, S. 481 ff..
[2] ebd.

Dienstag, 26. Februar 2013

Massa cum īnficere – ein Rezept

Der Begriff der Masse entstammt dem lateinischen „massa“ und heißt so viel wie Teig. Klumpen. Ich spreche von einem breiigen Stoff: ungeformt, unstrukturiert und weich. In Kindertagen kunterbunt, lustig und vielformbar. Wildes draufloskneten und schon entstehen die phantasievollsten Tiere, die schiefsten Häuser und giftig aussehende Törtchen. Heute denke ich an Nudelteig. Auch Nudelteig muss zunächst ordentlich durchgeknetet werden. Ein bisschen „īnficere“ (= Ansteckung und lateinisch für „färben“, „beflecken“, „vergiften“) – also eine Brise Salz, etwas Kurkuma wegen der gelben Farbe und vielleicht etwas Chili für ein wenig Würze – und das ganze wieder schön einkneten, sodass sich alles von außen Zugetane ideal ‚verbreiten‘ und mischen kann.

Wie ein Knetteig ist auch die Masse knet- und formbar und damit leicht zu beeinflussen. Und wie eine einzige, aus dem Nudelteig gefertigte Nudel im Teller nicht zu sättigen vermag, so kommt auch der Menschenmasse nur in der Menge eine Wirkung zu.

Ob epidemische Hysterie wie bei den Mädchen von Le Roy, panische Angst wegen des drohenden Weltuntergangs, sprachlich behauptete und medial inszenierte Angst und Trauer, Glaube als Millionen-Event oder Mobiltelefon als Religion: Geschluckt von der Masse befinden wir uns in einem hypnoseähnlichen Zustand, der uns empfänglich macht für Suggestionen; der uns nicht mehr zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden lässt. Irgendetwas, irgendjemand, irgendeine Einstellung wird vom Führer zum Verführer mit willfährigen Gefolgsleuten. Freiwillig oder unfreiwillig geraten wir in den Sog der Massenbewegung. Das Personalpronomen "Wir" drückt dann eine wie auch immer geartete Gemeinsamkeit einer Gruppe von Menschen aus. Egal, ob der Mensch sich dazu bereit erklärt hat, Teil oder "Partikel" unzähliger Gemeinschaften zu werden; er wird von diesem "Wir" angesprochen und mit einer ihm zugewiesenen kollektiven Identität ausgestattet. Das "Wir“ wird zur Vereinnahmungskategorie: Gefühlsrausch in der Masse – voll und laut.

Stelle ich mir Massenphänomene in einer Landschaft vor, also Landschaft als einen hypothetischen Raum mit Berggipfeln und Täler, dann sehe ich einen Schwarm, dessen Bewegungskraft und Bewegungsgeschwindigkeit mir unheimlich ist – gleich einem drohenden dröhnenden Bienenschwarm. Ein Schwarm, der als organisierte Kraft aber wahrlich Positives erreichen und bewirken kann: einer für alle und alle für einen. Volk als Gemeinschaft, als Vorstellung, als Ziel.

Wenn der Gipfel des Wohlergehens gemeinschaftlich erreicht ist, so bin ich mir nicht sicher, ob des dröhnenden Lärms und der trunken machenden Gefühle wegen, dieses Wohlergehen überhaupt gelebt wird. Können wir denn noch sehen, ob wir auf einem Gipfel stehen oder in einem Tal feststecken?

Ich bin in Behandlung: Vera in Behandlung. Wir sind in Behandlung. Durschreiten täglich Behandlungsräume ohne uns diesen gewahr zu sein, stecken manchmal fest, versuchen das andere Mal die Fesseln der Ansteckung zu durschneiden.

Kann der einzelne Mensch nun entscheiden wohin es gehen soll? Sind sämtliche Verhaltensmuster und Gefühlswelten durch den Menschen-Schwarm bestimmt oder ist autonomes Sein doch möglich?

Mir fehlen die Antworten. Und damit meine ich nicht, dass das bloße Fehlen von Antworten mit der grundsätzlichen Unmöglichkeit einer Antwort gleichgesetzt werden kann. Wie es aber verschiedene Wege durch die Landschaft gibt, so ist unterschiedliches Verhalten in den diversen Behandlungsräumen möglich. Auch wenn es beinahe phantastisch scheint, sich gegen das überflutet werden abzuschirmen, muss man dennoch nicht – und davon bin ich überzeugt – überall und gedankenlos in Ketten liegen.

Samstag, 12. Januar 2013

Mein Gott, Handy!

Mein iPhone schläft nie. Es schlummert hell wach und wacht über mich. Dann. Totalabsturz. Panik, Durchatmen, Besinnung: Bei einem „personal home computer“ kann das ja mal passieren. Halb so schlimm. Kurz warten, anschalten. „PIN eingeben“. „Ungültige PIN Noch 2 Versuche“. „Ungültige PIN Noch 1 Versuch.“
!!! ohnemichalsFaktotmiteinzubeziehenverbarrikadiertsichmeinLeben !!!
Mein Gott, Handy, wo bist du? Was bin ich ohne Anschluss? Was bin ich ohne Handy?

Das Handy, das Smartphone, hat den Planeten Erde infiltriert, erobert. In kürzester Zeit, ohne gegen eine Handvoll tatsächlicher Gegner, Kritiker, Skeptiker kämpfen zu müssen. Hintertückisch, einschmeichelnd, verlockend machte es den Erdenbewohner Mensch glauben, Leben wäre ohne es nur weniger lebenswert. Es ist schon phänomenal, dass wenn einer – gemeint Steve Jobs – sagt, er hätte das Handy neu erfunden, ein Handy, das revolutionär sei und Geschichte schreiben würde, ein Hype losgetreten wird, der – einmal ins Rollen gebracht – endlos zu sein scheint. Man könnte gar von einer Massenformierung durch die Versammlung unter dem Dach Apple und unter der Leitung eines einst Hirten und nun Heiligen – wieder gemeint Steve Jobs – sprechen.
Ist dieses Gerät nun Masse oder Individuum. Oder vermassende Individuation? Oder etwa individualisierte Masse?

Nun, zum einen entwickelte insbesondere das iPhone mitunter eine solche kathartische Wirkung, weil es Glauben macht, man könne dem Gerät „sein Gesicht“ verleihen und aus einem Massenprodukt ein Stück „Ich“ kreieren. Anders herum gedacht könnte man auch von einer Entindividualisierung in der Masse ausgehen, wenn man bedenkt, dass unser Interesse an der Erkennbarkeit von Individualität und der Vielfalt an Individuen und ihren Lebensweisen nur deshalb so groß ist, weil es uns die eigene Position zu formulieren hilft. Möglicherweise sind wir User auch das Ergebnis einer Technologie, die versteckt Verschiedenheiten zurückdrängt und Freiheit als Freiheit der Gleichartigkeit, der Masse bestimmt, im Rahmen derer sich der Einzelne erst als Individuum definieren kann.

Wie man es dreht und wendet – vermassende Individuation/individualisierte Masse oder Möglichkeitsfelder der Persönlichkeitsherausbildung: Es macht süchtig, wie ein süßes Gift, macht abhängig. Freiheit und Kontrolle, Bedrohung und Erlösung, ich liebe mein Handy, ich hasse mein Handy: Es lässt mich Welten betreten und Welten mich betreten. Macht zu Weltenbummler, Weltenwandler. Lässt mich dortzulande und hierzulande, diesseits und jenseits leben und erleben. Und was ist mit dem Hier und Jetzt frage ich mich? In jedem öffentlichen Verkehrsmittel ist eine Abkehr vom Hier und Jetzt, eine Flucht in die digitale Sphäre zu beobachten, um der jeweiligen Situation zu entfliehen. „Liebes Kind, mit diesen Kopfhörern auf dem Ohr und dieser lauten Musik bekommst du doch gar nicht mit, was um dich herum passiert!“ – „Ja Mutter, genau deshalb höre ich sie.“
Ist die Welt zukünftig im Gerät, weil die Welt dort lebendiger, lebensnäher, vertrauter scheint? Welche wird dann die echte Welt sein?
Wird uns die Welt im Gerät in unserem hiesigen Leben verrückt werden machen?

Man muss sich nur mal die zunehmende Ungeduld mit den Dingen vor Augen führen. Die Tücke der Beschleunigung macht unersättlich und vergessen, dass es an schierer Unmöglichkeit grenzt, etwas gefälligst sofort zu bekommen. Was gestern noch flott schien, ist heute eine schiere Zumutung. Geht schneller als in Echtzeit oder ist Sofortheit, wie sie uns das Smartphone mit all seinen Eigenschaften postuliert, eine Illusion, die im Hier und Jetzt so nicht gelebt werden kann?

Obendrein verlieren wir die Fähigkeit, allein mit uns selbst zu sein. Fünfminütiges Schlangestehen an der Supermarktkasse: Panikattacke. Wie wildes Herumtippen auf dem Handy. Kann der Mensch keine alleinigen, kurzzeitigen Gedankenspaziergänge mehr unternehmen?
Meine Güte, und als nächstes reden wir nicht mehr mit anderen Menschen, sondern nur noch mit Freund Handy…

Denn Freund Handy kleiden wir schließlich auch in neue Mäntelchen und machen ihm mit dem tollsten Klingelton eine Freude.
Mein Gott, Handy – für und in die Masse geboren.

Mobile Relationship: Nutzer oder Benutzter? 
<br />
(ein Cartoon von Manu Cornet)

Bin ich noch Nutzer? War ich jemals Nutzer?

Donnerstag, 10. Januar 2013

Religion im Abseits

Der Startschuss für den Weltjugendtag 2011 in Madrid fiel auf dem Plaza de Cibeles, wo traditionell der Fußball-Club Real Madrid seine Siege feiert.

Fußball – du Volkssport Nummer eins, du Glaubensgemeinschaft nicht der Christen, Protestanten, Muslime, Buddhisten, Hindustani. Fußball – du Glaubensgemeinschaft der Fans.

Der Begriff des „Fan(s)“ hat seinen Ursprung im lateinischen fanaticus, was mit „religiös schwärmerisch“ übersetzt werden kann und später und seither als Sakralwort „von der Gottheit ergriffen und in rasende Begeisterung versetzt“ bedeutet. [1] „Fußballgott“ und „heiliger Rasen“: kehrt Religion in die Fußball-Stube ein oder hält Fußball als Religionsersatz Einkehr in die Wohnzimmer der Fans?

Die Fan-Zeitung der Schalker Fan-Initiative e.V. trägt den Titel „Schalke Unser“ und die FC Bayern München-Anhänger singen das aus Willy Astors Feder entsprungene Lied „FC Bayern, Stern des Südens, du wirst niemals untergehn, weil wir in guten wie in schlechten Zeiten zu einander stehn, FC Bayern, Deutscher Meister, ja, so heißt er mein Verein, Ja, so war es und so ist es und so wird es immer sein!“ wie die Katholiken das „Vater unser“ verinnerlicht haben. Fans beten für den Sieg ihrer Mannschaft, weihen einzelnen Spielern Heimaltäre, die Reliquienschreine ähneln und an Marienkulte erinnern und pilgern zu Spielen. Kult Fußball als Religion im Abseits, welche ähnliche Bedürfnisse befriedigen kann wie bisher nur von althergebrachten und jahrtausendealten, geschichtsträchtigen Religionen gedacht?

Kirchen wie Stadien sind als geweihte Orte für geweihte Handlungen nur zu bestimmten Zeiten zugänglich und von einem besonderen Verhaltenscodex, wichtigen Zeremonien und Ritualen durchdrungen. Massenchoreographien wie die La-Ola-Welle, kollektive Bewegungen wie gemeinsames Hüpfen [2] und auch „[d]er feierliche Einzug der Spieler, die antiphonalen Gesänge beim Vorstellen der Spieler, die liturgische Fankleidung: Schal statt Pallium, Zipfelmütze statt Mitra, die Fahne statt Tragekreuz – all das wirkt liturgisch.“ [3] Was in der Kirche – vom gemeinsamen Gebet über Singen bis zum Empfang der Hostie – erst in der Gemeinschaft vorgelebt und erfahrbar wird, formt und stiftet auch das Fantum, den Glauben an die eigene Mannschaft. Durch gemeinsame Handlungen, Gefühle und vertiefte Beziehungen geeint, lässt der Zusammenhalt in der Fankurve den Einzelnen an einer Ordnung teilhaben, die zeitweilig als göttlich hypostasiert wird und alle gleich stellt.

Fußballstadien und die beinahe überirdische Potenz von Fußballevents üben wohl eine schier schrankenlose Integrationskraft aus, die mich bis dato nicht bekehren konnte.
Sprechen wir diesfällig noch von Glauben oder eher von beschwörenden, magischen Ritualen, die einen Sieg herbeiführen sollen?
Der Anthropologe Bronislaw Malinowski beschreibt die Funktion der Magie im Allgemeinen als „den Optimismus des Menschen zu ritualisieren, seinen Glauben an den Sieg der Hoffnung über die Angst zu stärken.“ [4]

Doch bei all dem magischen Spannungserleben, dem Zusammenhalt „in guten wie in schlechten Zeiten“ und der Sonderweltlichkeit, die das Fan-Sein ermöglicht, wo ist da Gottes Trost und seine Vertrauen schenkende Hand? Hilft ein Sieg, eine Sinnkrise zu bewältigen oder einen Todesfall zu verarbeiten? Gibt der Glaube an eine Mannschaft Halt, wenn existentielle Fragen dir den Boden unter den Füßen entziehen?
Ist Glaube - egal welcher Natur - die einzig verlässliche Quelle von Orientierung oder resultiert aus diesem weit gespannten Glaubensbegriff schließlich eine Glaubenskrise?







[1] Vgl. Dudenredaktion (Hrsg.): „Fan“ In: Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen
Sprache. Duden Band 7,3., Mannheim 2001, S. 204.
[2] Vgl. Reinhard Kopiez : Alles nur Gegröle? Kultische Elemente in Fußball-Fangesängen. In
Herzog, Markwart: Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult –Kommerz. Stuttgart 2002, S.
289ff.
[3] Andreas Merkt: Fußballgott. Elf Einwürfe. Köln 2006, S. 35.
[4] Bronislaw, Malinofsky: Magie, Wissenschaft und Religion. Frankfurt am Main 1983, S. 74.

Dienstag, 8. Januar 2013

EVENT MACHT GLAUBE

Als Jesus vor zweitausend Jahren in Jerusalem einzog, tat er dies ohne Glanz und Gloria. Der Papst, das Oberhaupt, der Hirte des katholischen Glaubens lässt sich nach wochenlangen, monatelangen, hie und da jahrelangen Vorankündigungen unter lautstarkem Jubel und Akklamation von einem Millionenpublikum begrüßen und feiern. So unter anderem 2000 in Rom (2 Mio. Teilnehmer), 2005 in Köln (1,1 Mo. Teilnehmer) , 2008 in Sydney (0,4 Mio. Teilnehmer) und 2011 in Madrid (1,7 Mio. Teilnehmer). [1]

Der Weltjugendtag. Ein zum größten Teil mediatisiertes Millionen-Event, eine religiöse, hybride Veranstaltung, die kirchliche Liturgie, Seelsorge und abenteuergleiche Erlebnisse in sich vereint und in der Mischung sakraler und profaner Bestandteile eine eigenständige Form festlicher Erfahrung etabliert; eine Begegnung mit der „heiligen Wirklichkeit“ möglich macht. Durch eventförmige Glaubensinszenierung werden sowohl Gläubige als auch Kirchen-kritische Jugendliche angesprochen Miteinander zu sein, Teil der katholischen Weltgemeinschaft und Glied einer großen Kette zu werden, die alle und alles zusammenhält.

Dem lawinenartigen Verlust an christlichen Anhängern, so scheint es mir, stemmen sich die Veranstalter mit einer inszenierten „Einheitsfiktion“ entgegen. Der Weltjugendtag wurde zu einer riesen Party-Meile gemodelt. Was einst unversöhnlich galt – Weltliches und Heiliges, Spaß und Geistigkeit – fügen die Jugendlichen nach ihrer Fasson zusammen, um die Weltjugendtagsgemeinschaft mit Luftschlangen-dekorierten Kreuzen, marienverzierten, mammuthaften Handschuhen, Sicherheitswesten mit Papstbild, Jesus-Brandings, Bob Marley-Flaggen und lauter Musik zu erleben und zu zelebrieren. In welchen Maßen die Popkultur Einkehr in das katholische Glaubensfest nimmt, zeigt sich nebstdem an der ungehemmten Begeisterung bei den glanzvollen und glorreichen Auftritten des Papstes. Kopfsenken, Kniefall, Demut, Unterwürfigkeit, Gehorsam, Stille und Andacht wichen schallendem Freudengeschrei, Applaus und Verzückung.
Wird hier noch gleich Justin Bieber erwartet oder doch der Papst?

Dass die bis dato abstrakte Gemeinschaft der katholischen Kirche als eine erlebte, inter- und multikulturelle Gemeinschaft erfahrbar wird, leuchtet mir ein. Doch heißt das auch gleichzeitig, dass die Institution Kirche die zahlreichen Gestalten und Ausmalungen des Glaubens respektiert, toleriert und jugendliche Religiosität in keine einfache und vor allem einzig wahre Denkschablone zu pressen versucht? Ist der Weltjugendtag ein erster Schritt – der vor allen Dingen nicht sonderlich schmerzhaft ist – in Richtung Zeitgeist? Oder ist der Klerus gezwungen diesen Schritt zu gehen, denn schließlich ist eine Lawine, einmal im Rollen, so gut wie nicht zu stoppen.

In Zeiten der Eventkultur bedarf es unausweichlich der Transformation des Religiösen und seiner integrativen Kraft. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ein umjubelter Auftritt des Kirchenoberhauptes, der heilig und ruhmreich in seinem Kleid verzaubert, spirituelle Tiefe erahnen lässt, predigt und eine auratische und charismatische Heiligkeit ausstrahlt, ob ein solcher Mann nachhaltig nicht nur wieder für eingefahrene und einschränkende Vorschriften, Regeln und Normen steht. Für den katholischen Glauben.

Und nach Tagen des Zusammenseins unter Gleich- und Wohlgesinnten, wird der Glaube dann wieder invisibilisiert, privatisiert, und – wenn auch beim Weltjugendtag vielfältig und bunt – im grauen, stillen Kämmerlein (weiter)gelebt?







[1] Vgl. Die Geschichte des Weltjugendtag
http://www.world-youth-day.org/geschichte.html (abgerufen am 06.01.2013)

Sonntag, 6. Januar 2013

Trauer (er)tragen

"Crossfire" (New York Times, 30.03.2003, S.1)

Ein Marine-Arzt in Uniform hält ein rosa gekleidetes irakisches Mädchen im Arm; im Hintergrund marschieren bewaffnete Soldaten. Das Bild erschien großformatig auf dem Höhepunkt der öffentlichen Kritik an der Invasion in den Irak auf der Frontseite der New York Times. Die Mutter des Kindes wurde bei einem von irakischen Heckenschützen verursachten „Crossfire“ kurz zuvor getötet, war der Bildunterschrift zu entnehmen. [1]

Was ich sehe, eine Ambivalenz väterlicher Geste und militärischer Härte – ein eingefrorener Augenblick. Mann in Uniform hält Kind im Arm, auf dem Ärmel des Kindes Blut. Das Mädchen liegt erstarrt in seinem Schoß. Die gesamte Gebärde des Arztes – Körperhaltung, Ausdruck – zeugt von schier unerträglicher Belastung, von unfassbarem Schmerz, von Tod. Und von fürsorglicher Zuwendung und Schutz.

Wie flüchtig oder nicht-flüchtig diese Geste der Zuwendung gewesen sein mag spielt im Grunde genommen keine Rolle. Dieser Moment wurde zu einem mehrdeutigen Artefakt von Humanität und ihrer Gefährdung medial konstituiert. Macht traurig, betroffen. Dieser Moment lässt uns mit nahen Menschen und entfernten Anderen trauern, eine aufschreiende Innerlichkeit spüren. Dieser Moment stiftet Gemeinschaft; gibt Anlass zur Reflexion, stellt die Frage nach dem Sinn und lässt fremdes Leiden zu einer sozialen Tatsache werden. Weil emotional aufwühlend erhalten eben solche Informationen erhöhte Aufmerksamkeit; das Gefühlsbetonte nehmen wir sowohl als Einzelpersonen als auch als Masse am ehesten für bare Münze. Und auch wenn der gemeinsame Bezugspunkt nur zeitweilig oder vor dem Hintergrund einer Sensationshast wahrgenommen wird, so wird er dennoch im „Wir“-Gefühl erlebt.

Doch welche soziale Dimension nimmt Trauer an, wenn sie nicht an ferne Unglücke gekoppelt ist? Wenn der Verlust eines nahen Menschen ertragen werden muss? Ist der Tote aus der Welt gerissen, so reißt er mich, der ich doch hier bin, oder zumindest einen Teil von mir, mit. Gibt es dann eine andauernde, mitleidende Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die Trauer (er)trägt?

Damit Kollektivgefühle erst aktualisiert werden und die Betroffenen in der rituellen Überwindung des Verlustes wieder in die Gemeinschaft integriert werden können, bedarf es des kollektiven Aktes der Trauer. [2] Prinzipiell müsste nach der Verlassenheit, der Einsamkeit, dem Alleinsein wieder ein „Wir“ entstehen. Doch was ist, so frage ich mich, wenn die Grenzziehung zwischen den Überlebenden und den Toten nicht gelingt, wenn die Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen in der Umgebung nicht funktioniert – zumindest anfänglich? Gibt es dann (auch) ein „Wir“? Oder wird der Trauernde, weil er allgemeinen Normen und Verhaltensregeln über kurz oder lang nicht entsprechen kann, Sanktionen unterworfen, vergessen, aus dem „Wir“ ausgegrenzt?







[1] Vgl. Frank Boesch/ Manuel Borutta (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 204-205.
[2] Vgl. Margarete Mitscherlich: Die Notwendigkeit zu trauern, Schwarzach am Main 1997, S. 982.

Freitag, 4. Januar 2013

Fürchtet euch sehr!

H5N1. Im Jahr 2005 sterben in Asien Geflügeltiere und Vögel an einer besonders aggressiven Form dieses Grippevirus. Kurze Zeit bevor die Zugvögel aus dem Süden nach Europa zurückkehren sollten, löst die Erkenntnis, dass die Übertragung der Vogelgrippe auch auf den Menschen möglich und wahrscheinlich sei, panische Verunsicherung in der Bevölkerung aus.

H1N1. Im Jahr 2009 bedroht der neuartige, aus Mexiko kommende Subtyp A/H1N1 – die Schweinegrippe – die Welt. Am 11. Juni 2009 rief die WHO daher die Pandemie aus.

Es folgen Sonderserien, Brennpunkte, Spezialausgaben. Interviews mit Experten, Politikern, Experten, Politikern. Angsteinjagende Headlines (bei der Bild-Zeitung sogar in zittriger Linienführung mit grün-gelbem Font) und Schicksalsberichte von Erkrankten tun ihr Bestes eines zu vermitteln – nämlich: Fürchtet euch sehr!

Allgemeine Betroffenheit ist erzeugt. Spannend an diesem Punkt ist, wie diese Betroffenheit weiter gemünzt wird. Nachdem, gewollt oder ungewollt – das sei in den Raum gestellt – ein Kollektiv potentiell Beteiligter erzeugt ist, werden partielle Wissensbrocken unter die Bevölkerung gebracht, um ein Mindestmaß an Kompetenz und Bewusstsein für die mögliche Gefährdung zu entwickeln. Unkontrollierbare Fälle wie die Vogel- oder Schweinegrippe jedoch lösen bei den mittelbar oder unmittelbar Betroffenen einen verheerenden Verlust an Sicherheit, Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit aus. Als „zirkuläre Dauertätigkeit des Erzeugens und Interpretierens von Irritation durch zeitpunktgebundene Information“ [1] beschrieb Niklas Luhman die Funktion bzw. Arbeit der Medien . Widersprüchliche Auskünfte und eine Flut an Bildern erzeugen einen allgemeinen Zustand der Verwirrtheit. Zugleich war nicht daran gedacht, die Mündigkeit der potentiell Betroffenen soweit zu stärken, dass sie Subjekt ihres Geschehens werden, um individuell oder kollektiv auf eine Belastung wie diese reagieren zu können. Stattdessen sollte das Ganze in den Händen der Fachleute (vor allen Dingen Politiker) bleiben, die sich dem Problem ermächtigt und für sich die Zuständigkeit reklamiert haben, mit diesem Phänomen umzugehen und es zu verwalten.

In Erzeugung dieser verängstigten Masse haben wir nun eine Mischung aus notwendiger, erzeugter Betroffenheit und abgegebener Zuständigkeit. Aufregung wird produziert, um danach Abregung und Besinnung zu fordern. Die Sache ist aber die: dass eine Abregung nicht zustande kommt liegt fast schon in der Natur der Sache. Denn werden die sogenannten "Verantwortlichen" nicht unserem verstärkten Informationsbedürfnis gerecht und gibt es schlicht und ergreifend nicht ausreichend Gegenmittel und Impfstoffe (die außerdem schwerwiegende lebensbedrohliche Folgen zur Nebenwirkung haben können), so hilft hundertmal Vertrauen in den lieben Herrn Minister nichts mehr.

Und dann, dann sind wir wahnsinnig hysterisch. Denn bewegt sich die inszenierte Masse nicht in die gewünschte Richtung, sprich, nicht auf staatlich vorgesehene Bahnen, ist sie unbeherrscht. Unbeherrscht und hungrig und unersättlich. Und je nach dem, von welcher Richtung der Wind weht, landet der Samen „Virus“ – geschaffen aus produzierten Zweifeln, Widersprüchen und Fragen – auf dem fruchtbaren Boden „Gesamtpopulation".

Sind Massen in Bewegung und kollektive Irrationalität nicht das Letzte, was man in entzündlichen Zuständen wie diesen brauchen kann?







[1] Niklas Luhman: Die Realität der Massenmedien, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage 2010, S.119.

Dienstag, 18. Dezember 2012

Endzeit-Fieber

Am 21. Dezember ist Winteranfang. Wissen wir. Am 24. Dezember feiern wir Heilig Abend. Hoffen wir. Zumindest, wenn wir wegen des Mayakalenders fest daran glauben, dass drei Tage vor Christi Geburtstag die Welt untergeht. Dürren, Vulkanausbrücke, Erdbeben, Flutwellen? Eine unheilvolle Planetenkonstellation? Dass der Weltuntergang mit dem Winteranfang zusammenfällt könnte natürlich ein noch schlechteres Ohmen sein. Schließlich hat es in der nicht armen Laufbahn der angekündigten Weltuntergänge eine solche Koinzidenz bisweilen noch nicht gegeben. Außerdem sollen die Maya gewusst haben, dass die Sonne alle 25.800 Jahre wegen der schwankenden Erdachse zur Wintersonnenwende mit dem Zentrum der Milchstraße gleich zieht.
Um die Katastrophe perfekt zu machen: Auch dies wird am 21. Dezember 2012 passieren. Eine weitere gespenstische Koinzidenz?

Und nun??? Panische Hamsterkäufe und ab in die Berge oder die Wüste, um hoffentlich als einer der 144.000 Erleuchteten von Erbarmen zeigenden außerirdischen Lebewesen ausgeflogen zu werden? Noch mal richtig die Sau raus lassen und sündigen als gäb’s kein Ende? Oder ein „Na und?“, weil seit dem Wechsel vom Jahr 1999 auf das Jahr 2000 jährlich die Welt hätte untergehen sollen?

Im Ernst: Werden einigermaßen festgefahrene Vorstellungen nicht hinterfragt, um nicht durch Daten widerlegt zu werden? Im Grunde genommen ist die Wissenschaft sich einig, dass die Apokalypse ausfällt und wie der normale Küchenkalender am 31. Dezember aufhört und ein neuer mit dem 1. Januar beginnt, würde am 21. Dezember eben der Maya-Kalender enden. Und dennoch erhält die NASA tausende Briefe von besorgten Eltern, die ihre Kinder aufwachsen sehen wollen und von Kindern, die nicht so früh dem Leben entrissen werden möchten.

Tritt der Weltuntergang in fünf Tagen nicht ein, so bahnt sich ein anderes Unglück an: Wegen dem vom Mensch gemachten Klimawandel steht über kurz oder lang eine Katastrophe bevor. – Vor 250 Jahren war es auch heiß und wer fuhr damals Auto?
Die Frauen, weil jetzt verstärkt in Führungspositionen, gebären keine Kinder mehr – Überalterung der Gesellschaft mit desaströsen Folgen. – Der Trend im Alter geht aber in Richtung gesunde Ernährung und Spaß am Ausdauersport, inklusive Glücklich-Sein.

Haben wir eine apokalyptische Mentalität? Wollen wir gegenteiligen Fakten nicht sehen, weil wir die drohende Katastrophe, die anstehende Apokalypse brauchen – weil sie existenzielle Fragen aufwirft? Im Angesicht des Verderbens ergreifen wir die Gelegenheit, das Leben zu überdenken, die Lebensweise zu ändern oder Buße zu tun. Das Verderben liegt doch aber so viel näher wie ein prophezeiter Weltuntergang: was, wenn ich von einer Dachlawine getroffen werde oder bei einem Autounfall ums Leben komme, schließlich liegt die Wahrscheinlichkeit hierfür bei 1:15000?

Wie kommt es also, dass die Menschheit haufenweise Angst vor einem Ereignis mit eher geringer Einrittswahrscheinlichkeit einkehren lässt?

Vielleicht trauen wir uns erst im Untergang einander gleich zu sein, die Farce fallen zu lassen und wir selbst zu sein. Jeder so wie er ist. Mensch als soziales Wesen in der Masse und doch Individuum mit Identität. Nur wenn die Angst haufenweise eintritt, erteilen wir uns selbst und gegenseitig die Absolution dafür. Es entsteht ein Ich und die anderen – ein „multiindividuelles Wir“.


Und falls die Welt doch untergehen sollte und wir nicht mit einem blauen Auge – zwar geläutert – davon kommen: Fröhliche Weihnachten und wohl dem, der die Telefonnummer eines außerirdischen Shuttleservices im Ärmel hat.

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