Massa cum īnficere – ein Rezept

Der Begriff der Masse entstammt dem lateinischen „massa“ und heißt so viel wie Teig. Klumpen. Ich spreche von einem breiigen Stoff: ungeformt, unstrukturiert und weich. In Kindertagen kunterbunt, lustig und vielformbar. Wildes draufloskneten und schon entstehen die phantasievollsten Tiere, die schiefsten Häuser und giftig aussehende Törtchen. Heute denke ich an Nudelteig. Auch Nudelteig muss zunächst ordentlich durchgeknetet werden. Ein bisschen „īnficere“ (= Ansteckung und lateinisch für „färben“, „beflecken“, „vergiften“) – also eine Brise Salz, etwas Kurkuma wegen der gelben Farbe und vielleicht etwas Chili für ein wenig Würze – und das ganze wieder schön einkneten, sodass sich alles von außen Zugetane ideal ‚verbreiten‘ und mischen kann.

Wie ein Knetteig ist auch die Masse knet- und formbar und damit leicht zu beeinflussen. Und wie eine einzige, aus dem Nudelteig gefertigte Nudel im Teller nicht zu sättigen vermag, so kommt auch der Menschenmasse nur in der Menge eine Wirkung zu.

Ob epidemische Hysterie wie bei den Mädchen von Le Roy, panische Angst wegen des drohenden Weltuntergangs, sprachlich behauptete und medial inszenierte Angst und Trauer, Glaube als Millionen-Event oder Mobiltelefon als Religion: Geschluckt von der Masse befinden wir uns in einem hypnoseähnlichen Zustand, der uns empfänglich macht für Suggestionen; der uns nicht mehr zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden lässt. Irgendetwas, irgendjemand, irgendeine Einstellung wird vom Führer zum Verführer mit willfährigen Gefolgsleuten. Freiwillig oder unfreiwillig geraten wir in den Sog der Massenbewegung. Das Personalpronomen "Wir" drückt dann eine wie auch immer geartete Gemeinsamkeit einer Gruppe von Menschen aus. Egal, ob der Mensch sich dazu bereit erklärt hat, Teil oder "Partikel" unzähliger Gemeinschaften zu werden; er wird von diesem "Wir" angesprochen und mit einer ihm zugewiesenen kollektiven Identität ausgestattet. Das "Wir“ wird zur Vereinnahmungskategorie: Gefühlsrausch in der Masse – voll und laut.

Stelle ich mir Massenphänomene in einer Landschaft vor, also Landschaft als einen hypothetischen Raum mit Berggipfeln und Täler, dann sehe ich einen Schwarm, dessen Bewegungskraft und Bewegungsgeschwindigkeit mir unheimlich ist – gleich einem drohenden dröhnenden Bienenschwarm. Ein Schwarm, der als organisierte Kraft aber wahrlich Positives erreichen und bewirken kann: einer für alle und alle für einen. Volk als Gemeinschaft, als Vorstellung, als Ziel.

Wenn der Gipfel des Wohlergehens gemeinschaftlich erreicht ist, so bin ich mir nicht sicher, ob des dröhnenden Lärms und der trunken machenden Gefühle wegen, dieses Wohlergehen überhaupt gelebt wird. Können wir denn noch sehen, ob wir auf einem Gipfel stehen oder in einem Tal feststecken?

Ich bin in Behandlung: Vera in Behandlung. Wir sind in Behandlung. Durschreiten täglich Behandlungsräume ohne uns diesen gewahr zu sein, stecken manchmal fest, versuchen das andere Mal die Fesseln der Ansteckung zu durschneiden.

Kann der einzelne Mensch nun entscheiden wohin es gehen soll? Sind sämtliche Verhaltensmuster und Gefühlswelten durch den Menschen-Schwarm bestimmt oder ist autonomes Sein doch möglich?

Mir fehlen die Antworten. Und damit meine ich nicht, dass das bloße Fehlen von Antworten mit der grundsätzlichen Unmöglichkeit einer Antwort gleichgesetzt werden kann. Wie es aber verschiedene Wege durch die Landschaft gibt, so ist unterschiedliches Verhalten in den diversen Behandlungsräumen möglich. Auch wenn es beinahe phantastisch scheint, sich gegen das überflutet werden abzuschirmen, muss man dennoch nicht – und davon bin ich überzeugt – überall und gedankenlos in Ketten liegen.

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