"Bist du ansteckend?"
Am 21. Dezember ist Winteranfang. Die kälteste Zeit des Jahres wird eingeläutet. Davor ist es vor allen Dingen nass, kalt und dennoch zu warm, um Wollpulli und Winterjacke zu tragen. Vor der kältesten Zeit des Jahres nimmt die Grippe-Zeit ihren unangefochtenen Platz ein und schlägt die erste große Welle. Beginn der großen Schnupfen-Knigge. Grippe ist ansteckend. Computertastatur, Türgriffe, Haltestangen in Bus und Straßenbahn, Einkaufswagen im Supermarkt, Geld, Menschen – alles „Seuchenbrutstätten“. Wir wissen um diese Ansteckungsgefahren. Wir waschen uns die Hände sobald wir zu Hause ist, ermahnen die Kleinen die Finger aus dem Mund zu nehmen und kratzt der Hals, nehmen wir vorbeugend eine Aspirin Complex.
Es ist beachtenswert, dass einige häufiger darüber nachdenken, welche bakterielle Gefahr davon ausgeht aus demselben Glas zu trinken, anstatt zu bemerken, welche Macht der sozialen Ansteckung von Freunden, Bekannten oder Freunden von Bekannten herrührt.
Bin ich ein Tick wie du, weil du ein wenig so bist wie sie und sie die Ernährungsumstellung von ihm toll findet? Oder lasse ich mich von dir infizieren, weil deine Geschichte mich inspiriert und dein Freund mit dem Rauchen aufgehört hat – in nur drei Wochen? Bist du ansteckend, weil ich deine Art mit alten Menschen umzugehen bewundere? Wer beschließt, dass regelmäßiges Fitness-Training dir gut tun würde und dass ein Auslandssemester oder vielleicht doch lieber ein Praxissemester für den beruflichen Werdegang von Vorteil wäre? Bin ich glücklich weil du frisch verliebt bist oder ist die Stimmung am Boden weil Vater wieder schlecht gelaunt von der Arbeit nach Hause kam?
Stille Gesetze, vermeintliche Pflichten, verinnerlichte Übereinkünfte bestimmen den Alltag. Das Leben folgt Codes. Codes, die in ihrer Eigendynamik beschließen, den Menschen unmündig und abhängig zu machen und es beinahe bis zur Unmöglichkeit erschweren, das eigene, reinste und purste „Ich“ zu Tage zu befördern. Wo immer wir mit anderen Menschen zu tun haben, sei es im Supermarkt, in der Kneipe oder im Wartezimmer, stimmen wir unbewusst unsere Mimik, Haltung und Stimme aufeinander ab. Durch äußerliche Nachahmung verändert sich der innere Zustand, welcher dann wieder äußerlich in unserer Mimik zum Ausdruck kommt – empathische Imitation also, um die Umgebung lesen und sich dementsprechend verhalten zu können. "Wir alle spielen Theater", [1] würde Goffman möglicherweise an dieser Stelle anführen: Indem wir bemüht sind, die Situation so zu definieren, dass wir vermeintlich wissen, was der Gegenüber von uns erwarten könnte und was wir uns von ihm erwarten, nehmen wir eine Rolle ein; und "wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt (z.B. Kellner), wird er feststellen, dass es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt." [2]
In Entscheidungs-Angelegenheiten wählen wir überdies oftmals diejenige Option, mit welcher auch bereits ein Freund eines Freundes Erfolg hatte. Und umgekehrt tragen wir mit unseren Handlungen dazu bei, wie glücklich oder traurig, krank oder gesund oder erfolgsgekrönt Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung sind. Also zwängt sich mir die Frage auf: Wann sind wir überhaupt wir selbst und gibt es "mein" Selbst überhaupt?
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Wer glaubt, andere zu beherrschen, ist nur noch mehr Sklave als jene“ [3] , sagte Rousseau einmal.
Wir werden geboren und werden geformt - formen uns selbst und lassen uns durch Andere und Anderes formen. Und wenn nicht, ahmen wir das Gegenteil dessen nach – selbstbewusste, autonome Abgrenzung, ja. Ich behandle mich selbst; lege mich in Ketten. Doch wenn wir das für Fremdbestimmung halten, dann rebellieren wir nicht gegen einschränkende Normen, sondern gegen unsere Geselligkeit. Denn wenn ich nicht Behandelte bin, so kann ich auch nicht Behandelnde sein. Ohne Gegenüber zu sein fühlt sich sinnlos an.
Ist es erlesen von jeglicher Art der Ansteckung durch andere frei zu sein?
[1] Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater, München 2003 (4.Auflage).
[2] ebd. S. 28
[3] Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des
Staatsrechts, Marixverlag 2006, S. 12.
Es ist beachtenswert, dass einige häufiger darüber nachdenken, welche bakterielle Gefahr davon ausgeht aus demselben Glas zu trinken, anstatt zu bemerken, welche Macht der sozialen Ansteckung von Freunden, Bekannten oder Freunden von Bekannten herrührt.
Bin ich ein Tick wie du, weil du ein wenig so bist wie sie und sie die Ernährungsumstellung von ihm toll findet? Oder lasse ich mich von dir infizieren, weil deine Geschichte mich inspiriert und dein Freund mit dem Rauchen aufgehört hat – in nur drei Wochen? Bist du ansteckend, weil ich deine Art mit alten Menschen umzugehen bewundere? Wer beschließt, dass regelmäßiges Fitness-Training dir gut tun würde und dass ein Auslandssemester oder vielleicht doch lieber ein Praxissemester für den beruflichen Werdegang von Vorteil wäre? Bin ich glücklich weil du frisch verliebt bist oder ist die Stimmung am Boden weil Vater wieder schlecht gelaunt von der Arbeit nach Hause kam?
Stille Gesetze, vermeintliche Pflichten, verinnerlichte Übereinkünfte bestimmen den Alltag. Das Leben folgt Codes. Codes, die in ihrer Eigendynamik beschließen, den Menschen unmündig und abhängig zu machen und es beinahe bis zur Unmöglichkeit erschweren, das eigene, reinste und purste „Ich“ zu Tage zu befördern. Wo immer wir mit anderen Menschen zu tun haben, sei es im Supermarkt, in der Kneipe oder im Wartezimmer, stimmen wir unbewusst unsere Mimik, Haltung und Stimme aufeinander ab. Durch äußerliche Nachahmung verändert sich der innere Zustand, welcher dann wieder äußerlich in unserer Mimik zum Ausdruck kommt – empathische Imitation also, um die Umgebung lesen und sich dementsprechend verhalten zu können. "Wir alle spielen Theater", [1] würde Goffman möglicherweise an dieser Stelle anführen: Indem wir bemüht sind, die Situation so zu definieren, dass wir vermeintlich wissen, was der Gegenüber von uns erwarten könnte und was wir uns von ihm erwarten, nehmen wir eine Rolle ein; und "wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt (z.B. Kellner), wird er feststellen, dass es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt." [2]
In Entscheidungs-Angelegenheiten wählen wir überdies oftmals diejenige Option, mit welcher auch bereits ein Freund eines Freundes Erfolg hatte. Und umgekehrt tragen wir mit unseren Handlungen dazu bei, wie glücklich oder traurig, krank oder gesund oder erfolgsgekrönt Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung sind. Also zwängt sich mir die Frage auf: Wann sind wir überhaupt wir selbst und gibt es "mein" Selbst überhaupt?
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Wer glaubt, andere zu beherrschen, ist nur noch mehr Sklave als jene“ [3] , sagte Rousseau einmal.
Wir werden geboren und werden geformt - formen uns selbst und lassen uns durch Andere und Anderes formen. Und wenn nicht, ahmen wir das Gegenteil dessen nach – selbstbewusste, autonome Abgrenzung, ja. Ich behandle mich selbst; lege mich in Ketten. Doch wenn wir das für Fremdbestimmung halten, dann rebellieren wir nicht gegen einschränkende Normen, sondern gegen unsere Geselligkeit. Denn wenn ich nicht Behandelte bin, so kann ich auch nicht Behandelnde sein. Ohne Gegenüber zu sein fühlt sich sinnlos an.
Ist es erlesen von jeglicher Art der Ansteckung durch andere frei zu sein?
[1] Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater, München 2003 (4.Auflage).
[2] ebd. S. 28
[3] Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des
Staatsrechts, Marixverlag 2006, S. 12.
Veritas veritas - 25. Nov, 13:19