Trauer (er)tragen

"Crossfire" (New York Times, 30.03.2003, S.1)

Ein Marine-Arzt in Uniform hält ein rosa gekleidetes irakisches Mädchen im Arm; im Hintergrund marschieren bewaffnete Soldaten. Das Bild erschien großformatig auf dem Höhepunkt der öffentlichen Kritik an der Invasion in den Irak auf der Frontseite der New York Times. Die Mutter des Kindes wurde bei einem von irakischen Heckenschützen verursachten „Crossfire“ kurz zuvor getötet, war der Bildunterschrift zu entnehmen. [1]

Was ich sehe, eine Ambivalenz väterlicher Geste und militärischer Härte – ein eingefrorener Augenblick. Mann in Uniform hält Kind im Arm, auf dem Ärmel des Kindes Blut. Das Mädchen liegt erstarrt in seinem Schoß. Die gesamte Gebärde des Arztes – Körperhaltung, Ausdruck – zeugt von schier unerträglicher Belastung, von unfassbarem Schmerz, von Tod. Und von fürsorglicher Zuwendung und Schutz.

Wie flüchtig oder nicht-flüchtig diese Geste der Zuwendung gewesen sein mag spielt im Grunde genommen keine Rolle. Dieser Moment wurde zu einem mehrdeutigen Artefakt von Humanität und ihrer Gefährdung medial konstituiert. Macht traurig, betroffen. Dieser Moment lässt uns mit nahen Menschen und entfernten Anderen trauern, eine aufschreiende Innerlichkeit spüren. Dieser Moment stiftet Gemeinschaft; gibt Anlass zur Reflexion, stellt die Frage nach dem Sinn und lässt fremdes Leiden zu einer sozialen Tatsache werden. Weil emotional aufwühlend erhalten eben solche Informationen erhöhte Aufmerksamkeit; das Gefühlsbetonte nehmen wir sowohl als Einzelpersonen als auch als Masse am ehesten für bare Münze. Und auch wenn der gemeinsame Bezugspunkt nur zeitweilig oder vor dem Hintergrund einer Sensationshast wahrgenommen wird, so wird er dennoch im „Wir“-Gefühl erlebt.

Doch welche soziale Dimension nimmt Trauer an, wenn sie nicht an ferne Unglücke gekoppelt ist? Wenn der Verlust eines nahen Menschen ertragen werden muss? Ist der Tote aus der Welt gerissen, so reißt er mich, der ich doch hier bin, oder zumindest einen Teil von mir, mit. Gibt es dann eine andauernde, mitleidende Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die Trauer (er)trägt?

Damit Kollektivgefühle erst aktualisiert werden und die Betroffenen in der rituellen Überwindung des Verlustes wieder in die Gemeinschaft integriert werden können, bedarf es des kollektiven Aktes der Trauer. [2] Prinzipiell müsste nach der Verlassenheit, der Einsamkeit, dem Alleinsein wieder ein „Wir“ entstehen. Doch was ist, so frage ich mich, wenn die Grenzziehung zwischen den Überlebenden und den Toten nicht gelingt, wenn die Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen in der Umgebung nicht funktioniert – zumindest anfänglich? Gibt es dann (auch) ein „Wir“? Oder wird der Trauernde, weil er allgemeinen Normen und Verhaltensregeln über kurz oder lang nicht entsprechen kann, Sanktionen unterworfen, vergessen, aus dem „Wir“ ausgegrenzt?







[1] Vgl. Frank Boesch/ Manuel Borutta (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 204-205.
[2] Vgl. Margarete Mitscherlich: Die Notwendigkeit zu trauern, Schwarzach am Main 1997, S. 982.

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