Mittwoch, 27. Februar 2013

Vera in Behandlung II

„Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle Beteiligten so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr darum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.“ (Hannah Arendt) [1]

Auch ich, die ich Teil dieses Massendiskurses bin, habe nicht die Kraft zu trennen und zu verbinden. Ich selbst bin in Behandlung: Vera in Behandlung. Ich bin Teil des Fischschwarms: Vera im Fischschwarm. Mittendrin. Auf die Frage, wie ich mich also selbst in den vielzähligen Gemeinschaften sehe, weiß ich nicht wirklich eine Antwort. Denn in dem Versuch bewusst durch Behandlungsräume zu schreiten, in dem Bemühen mich willentlich der Kollektivbildung zu entziehen, in dem Bestreben jeglicher Ansteckungsgefahr zu trotzen, werde ich automatisch zu einem Teil derjenigen, die all das auch versuchen. Vielleicht bin ich jetzt Mitglied der „Wir“-Kritiker. Zumindest aber gehöre ich zur Gemeinschaft der Blogger, die für Diskurse wie diesen Aufmerksamkeit wecken und Bewusstsein schaffen wollen. Hinzu kommt, dass ich erst im Nachhinein feststelle, ob und – in Ansätzen – wie eine Zuschreibung von außen auf mich wirkt respektive gewirkt hat.

Grenzenlos-Vera-in-Behandlung-

Ich kann mich nicht abtrennen, um objektive Schlussfolgerungen zu liefern und ich kann mich auch nicht mit Gliedern anderer Ketten verbinden, um tatsächliche Sinnzusammenhänge zu untersuchen. Meine Gedanken, meine Themen, mein Schreiben sind zumindest in Teilen durchdrungen von Wert- und Vorurteilen.

Ich habe Angst, dass wir alle irgendwann „massig“ sind – breiig, eintönig und knetbar. Dass die Vermassung der Welt entwurzelt und alle gleich und verlassen macht. Dann ist die Welt nur noch Teig-braun.
Zuversicht hingegen empfinde ich, wenn ich an meine unaufhörliche Fragerei in den letzten Wochen denke. Im „Fragen stellen“ sehe ich zumindest einen Lösungsansatz. Denn indem wir uns unseres Verstandes bedienen, indem wir uns intuitiv von unserer Neugier packen lassen, zeigen wir meiner Meinung nach Mut zum freien Denken. Unser Denken wird dabei zu einem kritisch-reflexiven Akt. Es geht, wie Hannah Arendt einst ihr Buch betitelte, um „Denken ohne Geländer“. Solange wir Menschen aber als funktionierende Glieder oder Instrumente eines Überorganismus – wie den der Masse – unhinterfragt und bedenkenlos handeln, kann sich die Vernunft selbst nicht durchsichtig werden.

An dieser Stelle also noch einmal mein Apell: Mut zum freien Denken!

Beim Denken ein Geländer hier und eine Schranke dort zu passieren und neue Denkwege einzuschlagen – auch wenn diese durch Denktraditionen und Gestrüpp erschwert scheinen – ist meines Erachtens wahnsinnig aufregend. Und mit ein wenig Übung und Überzeugung gelingt es uns vielleicht tatsächlich die einen oder anderen Wert- und Vorurteile zu vergessen, die uns am Denken hindern.

Und letztmöglich sind wir bunte, individuelle Fische in einem noch farbenreicheren Fischschwarm.

Bunte-Masse







[1] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 8. Auflage, München 1967, S.66.

Nur Mut!

Im Laufe der letzen Wochen, während ich meinen Blog schrieb, habe ich mir haufenweise Fragen gestellt und versucht, einige davon aufzuschlüsseln – etwa: Was macht mich zum radikal Behandelten bzw. spricht mir meine Handlungsfähigkeit ab? Wann und wo übermannt mich die soziale Ansteckung? Welche Konstrukte bringen Massen hervor? Wo und in welchen Dimensionen wirken Massenphänomene? Wie wird Masse inszeniert und produziert? Wann entsteht kollektive Identität? Wie sehe ich mich selbst in den vielzähligen Gemeinschaften?

Und nun – nach den vielen Fragen – habe ich im Sinn, einen Appell zu formulieren. Einen Appell, zudem ich Immanuel Kant heranziehen möchte. Denn während meiner Gedankenspaziergänge bin ich immer wieder über denselben Begriffsstein gestolpert: den der Unmündigkeit.

In der Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ hat Kant bereits im Jahr 1784 folgende Erkenntnisse niedergeschrieben:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. (…)
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ [1]

„Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Es ist bequem, Teil einer Masse zu sein und in der Gemeinschaft Halt zu erfahren. Bequemer Halt, um den „ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ brauche. Ungefährlicher ist es auch. Privilegien, wie etwa den Schutz der Masse zu genießen, sich hie und da verstecken zu können oder auf Unterstützung zu hoffen, machen das Leben unbeschwerlicher. Aber ist es wirklich erstrebenswert zeitlebens unmündig zu bleiben?

Waren wir einst unmündig, weil es uns an Reife und Erfahrung fehlte, müssen wir uns doch nicht zwangsläufig in eine immerwährende, abhängige Unmündigkeit begeben! Wäre es nicht spannend, den Spieß einmal umzudrehen und uns nicht als Teil der Masse zu sehen? Sondern mein Mobiltelefon, mein Glaube, meine Erfahrung beim Weltjugendtag, mein Fußballclub, meine medialen Interessen als Teile VON MIR wahrzunehmen? – Unendlich viele Teile, über die ich selbst gebiete? Würde ich mit diesem Schritt nicht mindestens einmal mehr über den Begriffsstein „Unmündigkeit“ steigen können, ohne zu stolpern?

Kant sagt, die Unmündigkeit eines jeden von uns sei selbstverschuldet. Und Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. „Zu dieser Aufklärung (…) wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ [2]

Lässt uns die Masse genügend Raum, um öffentlich frei zu denken – und das selbst verschuldet? Verfügen wir in unserem massenbestimmten Dasein über die Freiheit unsere persönliche Aufklärung betreiben zu können und uns unseres Verstandes – mutig und besonnen – bedienen zu lernen?

Wenn ja, wann findet eine solche, neue, großflächige und wahre Aufklärung statt? Wird sie stattfinden?

Nun zu meinem Appell, den ich gewissermaßen versprochen habe: Lasst uns in Richtung einer neuen Aufklärung aufbrechen. Lasst uns entschlossen Barrieren und Dogmen sprengen und uns selbst überwinden! Lasst uns die „Freiheit der Gleichartigkeit“, in welcher sich der Einzelne als Individuum zu definieren hat, nicht als die wahre Freiheit annehmen. Wir sollten uns vor den großen Fragen, Fragen die vor allen Dingen uns selbst wichtig sind, nicht in den breiigen Stoff „massa“ flüchten, sondern gewillt sein, in einen offenen Raum zu treten, den wir nach bestem Wissen und Gewissen selbst gestalten. Und möglicherweise resultiert aus den vielen kleinen, persönlichen Aufklärungen eine gesellschaftliche Aufklärung. Denn ich persönlich bin mir sicher, dass freiheitsdenkende Individuen in einer Masse wahrlich Großes bewirken könnten.

Von unserem Mut zum freien Denken hängt unsere Zukunft ab.







[1] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift,
Dezember-Heft 1784, S. 481 ff..
[2] ebd.

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